Beckenboden To Go – Folge 74: Beckenboden mit Ulla Henscher

Wie lange bist du schon Physiotherapeutin?

Ich habe mein Examen 1979 in Hannover gemacht und mich danach in so genannten Gesundheitskollektiven in einer Praxis niedergelassen. Diese Gesundheitskollektive bestanden aus Ärzt*innen, Physios und Hebammen. Der Ansatz der Gesundheitskollektive war sehr fortschrittlich, hat aber leider aus finanziellen Gründen nur fünf Jahre überdauert. Anschließend habe ich 38 Jahre in einer Physiotherapiepraxis gearbeitet. 

 

Warst du damals schon in der Frauengesundheit unterwegs?

Ja, es gab in verschiedenen Städten die Bewegung von feministischen Frauengesundheitszentren. In dem Zuge gab es auch ganz tolle Kongresse zu Verhütung, vertikalen Geburtsstellungen usw. Das war damals schon eine große Bewegung in Hannover. Dann bin ich der AG GGUP (Arbeitsgruppe Gynäkologie Geburtshilfe Urologie Proktologie) Hannover beigetreten und 1992 deren Leiterin geworden. Von der AG- GGUP war ich dann 19 Jahre Leiterin. 

 

Hat sich in den 19 Jahren das Interesse von Physiotherapeut*innen an Frauengesundheit verändert? Begonnen hat die AG GGUP (Arbeitsgemeinschaft Gynäkologie Geburtshilfe Urologie Proktologie) als Arbeitsgemeinschaft von Frauen, die sich mit Geburtsvorbereitung und vertikalen Gebärstellungen auseinandergesetzt haben. Später hat sich die Arbeitsgemeinschaft weiterentwickelt und es ging über die Geburtshilfe hinaus. In den 80er Jahren sind wir in den Bereichen Proktologie und Urologie noch gar nicht auf die Idee gekommen, dass man dort auch physiotherapeutisch arbeiten kann. 

 

Irgendwann haben wir dann die physio pelvica Fortbildung „erfunden“. Und in den 90ern haben wir auch begonnen eine Therapeut*innenliste zu führen, damit Patient*innen und Ärzt*innen die richtigen Ansprechpartner*innen finden. 

Wann in diesem Zeitraum hast du dich entschieden ein Buch zu schreiben? Ich habe immer schon Artikel geschrieben und dann ist der Thieme Verlag in den 90ern an mich herangetreten, weil die etwas zu Physiotherapie in der Gynäkologie rausbringen wollten. Und das nächste Buch kam dann 2004 und davon gibt es jetzt die vierte Auflage. Generell schreibe ich einfach gerne, das macht mir sehr viel Spaß. 

 

Du hast ja wirklich wahnsinnig viel geleistet mit deiner Praxis, der AG GGUP, dem Bücher schreiben und dann auch noch zwei Kinder groß gezogen. Woher kommt die Leidenschaft?

Ich habe mich schon immer gerne engagiert. Ich finde das Thema einfach spannend und wichtig und möchte mein Wissen daher auch verbreiten. Außerdem kommen in der Arbeitsgemeinschaft so viele tolle Frauen zusammen, da sind auch Freundschaften draus entstanden, das möchte ich nicht missen. 

 

Ein Thema in der Beckenbodenphysiotherapie ist ja auch immer wieder das vaginale oder rektale palpieren und behandeln. In Österreich zum Beispiel dürfen Physiotherapeut*innen ja wie Hebammen auch intern behandeln, in Deutschland ist das nicht ganz so klar. Seid ihr da auch als Verband dran?

Ja, da sind wir immer dran. Der Verband kümmert sich ja noch um viele andere Baustellen, aber generell arbeiten wir daran, dass es eine rechtliche Grundlage gibt. Im Moment ist es ja so, dass Gynäkolog*innen anerkennen, wenn Physios, die die Fortbildung und die Einverständnis der Patient*innen haben, vaginal und rektal palpieren und behandeln. Es herrscht der Konsens, dass diese Methode sinnvoll für eine Anamnese und auch für eine gute Behandlung ist. Ich denke die allgemeine Akzeptanz wird irgendwann zur gesetzlichen Anerkennung führen. 

 

Du machst ja auch Leitlinien-Arbeit, was genau bedeutet das?

Leitlinien sind im Grunde genommen Behandlungsempfehlungen für ein bestimmtes Krankheitsbild. Für diese Leitlinien wird recherchiert, ob es für die verschiedenen Maßnahmen einen Nachweis gibt. Evidenz gibt es natürlich noch nicht für alles, daher gibt es dann bei manchen Krankheitsbildern Expert*innen- Konsensempfehlungen. Die Expert*innen sind dann Ärzt*innen, Therapeut*innen usw. Die Krankenkassen orientieren sich dann auch an den Leitlinien, welche Maßnahmen sie bezahlen. Mit der AG GGUP habe ich auch an verschiedenen Leitlinien mitgearbeitet. Der Verband hatte eine Methodikerin, mit ihr haben wir viel evidenzbasiert recherchiert und unsere Ergebnisse in Leitlinien wie z.B. der Behandlung des Mammakarzinoms platziert. Das Tolle ist, dass jeder unter dem Portal AWMF die verschiedenen Leitlinien abrufen und teilweise auch in Patient*innensprache lesen kann. 

 

Würdest du deinen beruflichen Weg wieder so gehen?

Im richtigen Bereich bin ich auf jeden Fall. Ich glaube ich kann gut erklären und in der Gynäkologie erklärt man ganz viel. Und daher kann man es auch körperlich lange machen. Ich arbeite einfach auch sehr gerne mit Frauen zusammen. 

 

Was würdest du dir für die Zukunft für die AG GGUP wünschen?

Als erstes würde ich mir wünschen, dass dieser Themenbereich in den Physioschulen mehr unterrichtet wird. Nicht nur Gynäkologie, sondern auch Urologie und Proktologie. Und dass die Schüler*innen dann diese Themen stärker in die Praxis reinbringen und die Patient*innen besser behandeln. Spezialisierte Praxen, wie zum Beispiel deine Praxis halte ich auch für sinnvoll, weil die Therapeut*innen dann in einem bestimmten Bereich einfach mehr Erfahrung haben. Was ich mir noch wünschen würde, ist, dass wir noch besser mit den Hebammen zusammenarbeiten, aber ich glaube da sind wir auf einem guten Weg. Und ganz wichtig finde ich auch noch, dass der Beckenboden als Muskelgruppe im Sport, der Therapie usw. noch ernster genommen wird.


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