Beckenboden To Go – Folge 77: Was haben Rückenschmerzen mit dem Beckenboden zu tun?

Heute begrüßt das Bewegungszentrum Norderstedt im Podcast „Beckenboden to go“ die gebürtige Australierin Christine Hamilton. Christine ist Physiotherapeutin mit dem Forschungsschwerpunkt auf muskuloskelettalen Beschwerden, sie gibt ihr Wissen als Privatdozentin an der Universität Wien und an der Hochschule Osnabrück weiter. Außerdem ist sie Autorin und arbeitet in ihrer Praxis in Erlangen. In der heutigen Folge sprechen wir über therapeutische Übungen für die Tiefenmuskulatur von Kreuz- und Bauchraum, die entscheidend ist bei Beschwerden des unteren Rückens, Beckenbodens und Atemwegserkrankungen. 

 

Magst du uns ein bisschen mehr zu dir erzählen?

Ich bin seit über 40 Jahren Physiotherapeutin. Ich habe meine Ausbildung und später auch meinen Master in Brisbane an der Universität von Queensland gemacht. Ich habe an der Universität in einer Forschungsgruppe gearbeitet, die sich mit muskuloskelettalen Beschwerden beschäftigt hat. Diese Forschungsergebnisse habe ich dann mit nach Deutschland gebracht. 

 

Du hast ja eine Fortbildungsreihe entwickelt: P.E.P. – System zur lokalen Stabilität der Gelenke. Was genau verbirgt sich dahinter?

P.E.P steht für patientenzentriert, evidenzbasiert bzw. informiert und praxisorientiert. Die Idee kam mir, weil wir viel Evidenz haben, aber Praktiker*innen in Deutschland in ihrem Alltag Schwierigkeiten haben diese umzusetzen. Ich habe daher ein Konzept entwickelt wie man die Forschungsergebnisse im Arbeitsalltag anwenden kann; also wie kann ich schnell evidenzbasierte und patientenzentrierte Entscheidungen treffen? Und um lokale Stabilität zu erklären, muss man verstehen, dass wir zwei muskuläre Systeme haben. Wir haben ein tiefes muskuläres System, welches Schutz bietet und die Gelenke zentriert. Diese tiefe Muskulatur schützt eher über das Spannungsvermögen als über die Kraft. Das außen muskuläre Korsett ist dann für die Bewegung verantwortlich. Eine gesunde Bewegung läuft so ab, dass zunächst mein Gehirn ein Signal an meine tiefe Muskulatur sendet und die tiefen Muskeln die Segmente absichern und dann gehe ich abgesichert in die Belastung und meine äußere Muskulatur kommt zum Einsatz. Das nennt man dann motorische Kontrolle . Und lokale Stabilität ist die Absicherung, die ich um meine Wirbelsäule oder auch um meine Blase brauche, bevor ich in die Belastung gehe. 

 

Das Problem bei Beschwerden ist, dass diese Absicherung zu spät kommt und wir dann zum Beispiel Urin verlieren oder Schmerzen im Lendenbereich haben. 

 

Man kann sich das vorstellen wie bei einem Fahrradschlauch. Ein Fahrrad braucht nicht nur ein gutes Reifenprofil, um fahren zu können, sondern auch einen aufgepumpten Schlauch. Und genau so ist es auch mit unserer Muskulatur. Eine Person, die sehr viel Sport macht, kann trotzdem Probleme haben, weil ihre tiefe Muskulatur nicht richtig arbeitet. 

 

Was gehört denn zu dem tiefen lokalen System?

Wir haben eine Menge Muskeln, die als Einheit fungieren. Dazu gehören der Beckenboden, der tiefe quere Bauchmuskel (transversus abdominis) und das Zwerchfell. Auch sehr wichtig sind die kleinen Rückenstrecker zwischen den Wirbeln und unser Hüftbeuger. Diese ganzen Muskeln müssen gemeinsam und rechtzeitig anspannen, damit wir uns schmerzfrei und kontinent bewegen können. 

 

Wenn dieses tiefe System aus dem Gleichgewicht gerät z.B. durch eine Schwangerschaft. Wie kann ich das tiefe System wieder trainieren?

Man muss zunächst die Ursache verstehen. Das Gehirn hat eine Art Hemmung, es sagt zum Beispiel nach einer Schwangerschaft zu dem tiefen System „Lass mich erstmal in Ruhe“. Als Kompensation spannt die oberflächliche Muskulatur mehr an. Man schützt sich sozusagen, in dem man sich steif macht. Das kann Schmerzen verursachen, die dann nach einigen Wochen abnehmen, aber die Hemmung zwischen Gehirn und tiefer Muskulatur bleibt. Daher reicht es auch nicht aus einfach Sport zu machen und die oberflächliche Muskulatur zu trainieren. Wir brauchen gezielte Übungen für das tiefe System, um diese Hemmung abzubauen, sodass die tiefen Muskeln angesteuert werden und die oberflächlichen Muskeln entspannen können. 

 

Nochmal zum Verständnis für die Hörer*innen; Wenn ich vom Stuhl aufstehe, aktiviert sich hoffentlich zuerst mein tiefes System ohne, dass ich es merke und dann komme ich mit Hilfe meiner oberflächlichen Muskeln in den Stand? 

Ja, genau. Normalerweise aktivieren die tiefen Muskeln, wenn ich den Gedanken habe „Ich möchte mich bewegen“. In der Therapie bringen wir den Muskeln sozusagen künstlich bei: bevor ich belaste, muss ich anspannen. Wir trainieren den Ablauf von Belastung, es ist mehr Gehirntraining als Muskeltraining. 

 

Was wäre denn jetzt eine Anleitung, um unseren queren Bauchmuskel, den transversus abdominis anzuspannen?

Zuerst muss man die Hand auf den unteren Bauch unter den Bauchnabel legen. Dann sollen die Patient*innen zuerst völlig loslassen, gerade Personen mit Stressinkontinenz neigen dazu, die Bauchmuskulatur immer festzuhalten. Und dann kann man sich vorstellen, man löst die Haut von der Hand, ganz ganz sanft. Ich sage immer wie eine Briefmarke, die man abziehen will. Man zieht dann mit Hilfe des Beckenbodens die Bauchhöhle leicht zusammen. 

 

Muss ich das mein Leben lang trainieren oder lernt mein Gehirn irgendwann wieder die Ansteuerung vor der Bewegung?

Laut unserer Forschung ändert sich schon nach 10 Wiederholungen etwas im Gehirn. Und nach zwei bis vier Wochen ändern sich methodische Muster im Gehirn. Wenn die Beschwerden zurück kommen, dann muss man nochmal 2-4 Wochen investieren, aber man muss nicht für immer trainieren. In der Praxis fangen wir an mit der Ansteuerung der tiefen Muskulatur, wenn das gut funktioniert gehen wir weiter zur Haltungskontrolle bzw. axialen Kontrolle. Das bedeutet, wir üben die tiefe Muskulatur beim Stehen, Gehen, Sitzen ect. zu halten und steigern dabei die Belastung. Und wenn Gleichgewicht ein Problem ist, dann beüben wir auch das Gleichgewicht. Zuletzt gehen wir dann in ein spezifisches Krafttraining.. Wenn jemand zum Beispiel im Getränkemarkt arbeitet, dann üben wir die spezifischen Bewegungen. 

 

Wo findet man dich?

Unter www.christine-hamillton.de 

 

 


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