Andrea, wie bist du auf die Idee gekommen, dass es wichtig ist, darüber zu sprechen, wie sich die Sexualität bei Menschen die geboren haben, gestaltet?
Ich bin ja Doula und begleite Frauen und Familien in der Zeit der Schwangerschaft und Geburt und auch danach. Unter anderem gebe ich auch Mama Circles und dort
bin ich einem Impuls gefolgt und habe eine Sitzung nur über Sexualität gesprochen. Und die Frauen waren sehr dankbar in einem geschützten Raum ausführlich darüber
zu sprechen. Das es eben nicht damit abgetan wird „Ja habt ihr schon? Wir nochnicht..“. Häufig wird da auch mit einer negativen Energie gesprochen und zu sehen,
was passiert, wenn man diesen Raum öffnet und gemeinsam mal schaut, was passiert bei dir, was empfindest du? Oder auch mal zu hören, dass es ganz normal ist und man sich Zeit geben sollte hilft den Frauen enorm weiter. Und gerade die Reaktion der Frauen in dieser Sitzung haben meine Leidenschaft da zum Brennen gebracht. Und so habe ich mich dazu entschlossen einen Workshop aufzusetzen.
Was bedeutet die Übergangszeit?
Die Schwangerschaft allein ist ja schon eine Übergangszeit, wir lassen zu, dass sich unser Körper verändert und ein neuer Mensch entsteht. Es ist wirklich eine Veränderung von der Frau zur Mutter. Wir bleiben zwar immer Frauen, aber nicht desto trotz ist ein großer Übergang zur Mutter. Und in dieser Zeit öffnen wir uns ständig, für den Partner, für die Empfängnis des Kindes. Wir geben unseren Körper hin, damit das Kind wachsen kann. Und auch bei der Geburt öffnen wir uns dann, um das Kind ins Leben zu „entlassen“. Und in diesem Übergang kommen wir auch meistens in Kontakt mit unserem tiefsten Selbst. Es hat viel mit Vertrauen zu tun und an was man glaubt, das kann – muss aber nicht mit Religion zu tun haben, sondern viel mehr damit, was unser Leit-Stern ist. Wer bin ich, wo möchte ich hin, bleibt das
alles so, bin ich jetzt so? In der Veränderung gibt es so viele Emotionen und Wahrnehmungen sowie auch hadern und Staunen. Wenn ich da insgesamt gut gesettelt bin und eine gute Basis habe, dann bin ich auch in der Lage auf dieser
Basis gut aufzubauen, aber all das ohne Stress. Es muss ja nichts fertig werden, man soll sich einfach auf den Prozess einlassen. Alles ist Veränderung und somit auch dieser Übergang. Und wenn wir uns diesem mit Vertrauen hingeben, dann kann ich auch was die Sexualität betrifft, das Thema ganz anders wahrnehmen. Sicher ist auch, dass die Sexualität nach der Geburt eine ganz andere sein wird, als vor der Geburt und dieser Satz braucht gar keine Angst einjagen, sondern der kann eine Reiselust wecken. Ich vergleiche die Phase gern mit der Pubertät, da gibt es ja auch unterschiedliche Erfahrungspunkte. Was letztendlich dahinter steht ist ja das Ausprobieren, wie empfinde ich das und jenes, was möchte ich? Die erste und engste sexuelle Beziehung ist ja die zu uns selbst und da dürfen wir dann wieder
schauen und erfahren und erlernen, was wir möchten und brauchen. Wir dürfen uns neu finden. Es verändert sich ja so viel. Unser Körper verändert sich und vielleicht können wir das manchmal auch gar nicht so gut annehmen, weil wir unglücklich damit sind. Aber unser Körper leistet so viel und deswegen ist es auch so wichtig, dass wir liebevoll
mit uns und unserem Körper umgehen.
Wenn ich die Chance habe meine Sexualität nochmal neu zu erleben und zu definieren, dann ist das doch ein Geschenk oder?
Total, denn wenn ich ein Kind mit meinem Partner erwarte, dann geht es ja um die Vereinigung. Das Kind ist die Manifestation der Einheit. Es ist ein Symbol der Vereinigung zweier Menschen. Bei der Sexualität geht es ja genauso um die Einheit, ums Eins sein. Und das ist ja auch der Schlüssel, den uns das Kind mitbringt, das Eintauchen ins Eins sein.
Und du hast gesagt, vorher ist es auch wichtig, erstmal mit sich selbst wieder eins zu sein, richtig?
Ja und was auch für viele Frauen ganz wichtig ist, ist das Geburtserlebnis entsprechend zu verarbeiten. Das muss auch nicht zwangsläufig unmittelbar nach der Geburt sein. Aber wichtig ist, dass man da nicht auch noch ein Paket mit sich
schleppt, sondern mit sich selbst oder auch mit Expert*innen aufgearbeitet wird. Und es müssen nicht nur traumatische Geburten aufgearbeitet werden, auch „normale“ Geburten sollten aufgearbeitet werden. Was ist da passiert, wie geht es mir damit, wie habe ich das erlebte empfunden? Man darf ja auch nicht vergessen, dass bei einer Bauchgeburt zum Bespiel viele Nerven durchtrennt werden. Und meistens weiß man ja auch gar nicht, ob das was man fühlt normal ist oder nicht. Man muss in die verschiedenen Emotionen schauen und hinhören und die Geburt zu verarbeiten. Dann geht es auch viel um die Lust auf sich selbst, auf das Leben, auf die neue Rolle. In dieser Umstellungsphase gibt es natürlich auch viele Unsicherheiten. Wer bin ich, wer will ich sein? Bin ich eine gute Mutter? Da kommt ja wahnsinnig viel auf
einen zu und da dürfen wir auch mit einer gewissen Leichtigkeit und Entdeckergeist rangehen. Und es ist einfach so, in einer cis-hetero-normativen Beziehung, dass die Frauen erstmal mit der Heilung ihres eigenen Körpers beschäftigt sind. Die Mutter widmet sich mit allem was sie hat um das Versorgen des Kindes, um dieses zu Schützen und heranwachsen zu lassen. Und der Mann macht gefühlt weiter wie zuvor. Er geht weiterhin arbeiten und hat natürlich in seinem Erbgut, dass seine Sitte nicht ausstirbt und demnach natürlich auch wieder ganz normale Sexualität, er würde also quasi direkt weitermachen. Wenn man in dem Zeitalter zurück reist, wäre das Kind früher einfach gestorben, wenn Frauen nicht sich
nicht so hingegeben hätten. Da wäre dann der Säbelzahntiger gekommen oder das Kind wäre auf Reisen gestorben, all das ist ja in uns und quasi programmiert. Man darf sich ruhig Zeit lassen, aber sollte auch immer mal hinterfragen, ob man sich nicht vielleicht auch einfach hinter der Mutterrolle versteckt. Es ist ja auch interessant mal herauszufinden, warum da eventuell keine Lust vorhanden ist. Da kann auch die Partnerschaft wieder mehr in Fokus rutschen, denn
auch die Partnerschaft ist in einem massiven Übergang. Ich spreche hier jetzt zwar im klassischen Rollenbild der Mann und Frau, aber ich spreche natürlich alle Menschen an. Wenn man also sich in die Mutter- bzw. Vaterrolle begibt, dann
kommen da auch eigenen Themen dazu, was wir in der Kindheit erlebt haben, wie war unsere Mutter, unser Vater. Und das alles gibt uns die Möglichkeit ganz tief in uns selbst abzutauchen. Auch in der Partnerschaft darf man gut miteinander im Gespräch sein und zu schauen, was ist da, warum ist das da und was macht das mit mir? Man darf sich da auch gern Hilfe oder Begleitung holen, weil man oftmals ja gar nicht weiß, wie man an gewisse Themen rangehen soll.
Das Kind ist aber definitiv kein Grund, warum man keine Sexualität hat. Sexualität kann immer da sein, es ist ja nicht nur die bloße Penetration, Sexualität fängt schon viel subtiler an. Oft wird das ja als Grund angegeben, seit das Kind da sei laufe es nicht mehr etc. Das Kind ist aber nie der Grund, das Kind ist die Verbindung zweier Menschen und bringt natürlich neue Themen auf den Tisch, aber das Kind ist nie das Trennende.
Was in diesem Übergang auftauchen kann, sind Rollen- und Anpassungsprobleme und da sollte man in einer Partnerschaft offen drüber kommunizieren. Und man sollte auch nie mit der Lust auf den Partner anfangen,
sondern mit der Lust auf sich selbst. Man sagt ja auch, wenn du geliebt werden möchtest, dann solltest du zuerst dich selbst lieben und der Rest kommt dann von alleine. Das kann man auch auf die Sexualität übertragen. Es handelt sich hier wirklich um Identitätsthemen, wer als Frau bin ich und wie identifizieren wir uns jetzt eigentlich als Paar. Auch diese Übergangszeit sollte man empfangen und akzeptieren und es nicht als etwas ansehen, dass man wegbekommen soll. Und sich auch nicht mit den Fragen quälen, ob das jetzt immer so sein wird, ob das jetzt die Lust ist, die man empfinden
kann. In den meisten Fällen wird es nicht so bleiben, da muss man einfach geduldig sein. Abwarten heißt nicht nichts tun. Es ist wichtig, dass einem klar ist, dass alles in Veränderung ist und dass der aktuelle Zustand so in 3 Jahren nicht mehr sein wird, vermutlich nicht mal mehr in einem Jahr. Natürlich darf man auch traurig über die Veränderung sein bevor man ins Handeln kommt. Aber dennoch muss die Situation akzeptiert werden und dann sollte man einfach mit offenen Augen durchs Leben gehen und schauen, was auf einen zukommt. Wir können nicht alles im Leben steuern – all das lehrt uns Schwangerschaft, Geburt und Elternzeit. Und so darf man ganz geduldig und wertschätzend mit sich selbst in diesem Übergang sein. Trauer zulassen und auch Trauer leben, denn das endet auch mit einer gewissen Art der Akzeptanz, denn wenn ich nicht mehr beschäftigt bin mit dem was stört, dann bin ich bereit und kann die Geschenke, die dort vielleicht schon bereit liegen, sehen.
Diese Übergangsphase gibt es ja nicht nur bei Menschen, die entbunden haben, sondern auch so befinden sich Menschen immer mal wieder im Übergang. Und meiner Erfahrung nach fällt das den meisten Menschen einfach sooo schwer. Hast du da eine Idee, wie ich diesen Übergang besser akzeptieren kann?
Eine Klientin bezeichnet mich gern als Expertin für Übergänge, weil ich gern und viel mit Ritualen arbeite, immer maßgeschneidert auf die Klient*innen. Ein Ritual ist voller symbolischer Handlungen und ein Ritual gibt dem, was man nicht aussprechen kann, einen Raum. Manche Dinge können wir nicht wirklich gut aussprechen und in Worte fassen. Und Worte sind auch die Grundlage von Missverständnissen. Und in rituellen Handlungen (bspw. das Closing the Bones Ritual) erdet man sich, kommt in Kontakt mit sich selbst und das gibt einem ein ganz geborgenes Gefühl, für was immer da auch ist. Für Gefühle, die sich zeigen oder Tränen. Manche Frauen sind so erschöpft und schlafen einfach ein und denken einfach nicht und denken sich „wow – was für ein Geschenk“. Man kann nicht genau sagen, was da passieren wird, aber die Rituale geben eben diesem Übergang eine Bedeutung und auch einen Raum. Und da muss man einfach schauen, dass man jemanden findet, der einen ein bisschen begleitet, wie man so ist und wo man so steht. Das ist auch immer individuell und da muss man sich an die Person anpassen, da kann man nicht einfach irgendein Konzept über jemanden drüberstülpen. Aber genau diese Begleitung kann man sich ja auch aus dem Freundeskreis wünschen. Man kann sich beispielsweise im Freundeskreis zusammentun und sich bewusst die Zeit nehmen, um anhand eines
kleinen Rituals über gewisse Themen und Gefühle zu sprechen. Und um die Brücke jetzt wieder zurück zu schlagen, all das ist ja auch schon Sexualität. Sexualität ist nicht nur pure Penetration, auch schon wenn man sich streichelt und bspw. „Gänsehaut“ beim Partner auslöst, ist das ja auch Sexualität. Und genau da kann man ja nach der Geburt auch erstmal wieder anfangen, die Körper gegenseitig erkunden und schauen, wo gibt’s vielleicht noch erogene Stellen, die einem nicht bekannt waren, wo leichte Berührungen erregend sind? Während Schwangerschaft und Geburt kommt man meist zum ersten Mal mit den Bereichen Muttermund, Damm und Beckenboden in Berührung. Meist auch in relativ
„technischem“ und nicht anziehenden Bezug, aber das sind eigentlich so schöne erogene Bereiche, die man in die Sexualität zum ersten Mal integrieren kann.
Man braucht keine Penetration um Lust und Sexualität zu erzeugen, da reichen auch Berührungen. Und wenn der Mann eine orgasmische Erfahrung braucht, dann kann er sich ja auch während man seine eigenen erogenen Zonen erkundet sich selbst befriedigen. Man sollte einfach offen bleiben und auch mal aus den Strukturen seiner Partnerschaft ausbrechen und vielleicht fühlt sich das am Anfang komisch an, aber bleibt neugierig. Genau das ist das, was ich meine, wenn ich sage, dass du dich auf eine Reise begibst. Und nein, das wird wahrscheinlich nicht immer so bleiben. Das
kann zu etwas ganz Vertrautem und Innigen werden, wenn man sich zum Beispiel mit seinem Partner befriedigt. Ich inspiriere den Menschen immer dazu neugierig zu sein.
Die Selbstbefriedigung vor dem Partner ist ja das intimste überhaupt, die meisten Paare geben das als intimer an als den Geschlechtsakt.
Und viele Menschen sagen auch, dass sie bspw. Berührungen am Kopf oder an den Händen mögen, also weit weg von den eigentlich erogenen Zonen. Und auch da gilt es herauszufinden, wo und wie mag ich eigentlich gerade berührt werden und wo eben nicht. Also so wie ich es anfangs gesagt habt, wenn ich Sexualität als „und habt ihr schon wieder“ „ne, wir auch nicht“ ansehe, dann entgeht mir so vieles. All diese Erfahrungen und Erkundungen mache ich nicht, wenn ich mich vor dieser Reise verschließe und Sexualität als bloße Penetration ansehen. Und im Endeffekt liegend die Geschenke da, ich selber entscheide, ob ich sie auspacke oder nicht. Häufig ist es ja so, dass wir Sexualität als Bedingungen oder Gewohnheit ansehen. Und dann ist auch klar, was passiert und wie genau es abläuft. Aber warum? Warum muss immer alles so vorbestimmt sein? Und ich denke genau das ist auch spannend für den Partner, der nicht geboren hat, sich auf diese neue Routine einzustellen.
Neugierig geworden?
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