Wo ist der Unterschied von „ich schneide mir in den Finger und spüre den Schmerz“ und lang andauerndem Schmerz?
Es geht darum, dass wir prinzipiell sagen, dass jeder Schmerz eine emotionale, eine kognitive, eine soziale und eine biologische Komponente hat. Beim Schnitt in den Finger ist das der akute Schmerz, der nur biologisch bedingt ist. Dein Gehirn reagiert hier nur auf den Schmerz durch die Gewebeverletzung.
Alles, was ganz ganz akut ist, also zum Beispiel aufgrund eines Unfalls passiert, hat oftmals nicht diese komplexen Ebene, aber sobald der Schmerz darüber hinaus geht und länger anhält, kann sich die Einstellungen und die Gefühle gegenüber des Schmerzes verändern. In den letzten 15 Jahren hat die Medizin einen sogenannten Paradigmenwechsel vollzogen, weg vom pathophysiologischen Modell hin zum psychosozialen Modell,
weil es eben einen Einfluss hat, wenn man Angst vor der Verletzung hat. Wenn man Angst hat, dass man nicht mehr laufen kann, weil der Fuß gebrochen ist, dann heilt die Verletzung auch schlechter. Wir müssen also weg von dem Standardschema, dass die Art von Verletzung Summe X an Heilungstagen braucht. Wenn die negativen Gedanken zum Schmerz zu groß sind, dann kann der Frust über die Verletzung an sich einen langfristigen Schmerz hervorrufen und die Heilung verlangsamen.
In erster Linie ist der Schmerz ja dafür da, um direkt eine Verhaltensänderung zu vollziehen.
Als Beispiel: Wenn ich auf eine heiße Herdplatte fasse, dann löst der Schmerz aus, dass ich meine Hand sofort wegziehe. Also mein Verhalten sofort unterbinden, um mich vor weiterem Schmerz zu schützen. Die Verhaltensänderung ist hier also ausschlaggebend, um den Schmerz zu mindern. Verändert sich aber nun unsere grundsätzliche Haltung zum Schmerz, weil wir entweder so gefrustet sind, dass wir den geplanten Urlaub nicht antreten können, weil wir Angst haben, dass wir
unseren Sport nicht mehr ausüben können und die Verletzung niemals ganz verheilen wird, dann beeinflussen wir die Heilung negativ und stellen die ersten Weichen für langfristigen Schmerz.
Einen großen Wandel gab es auch, als die Symptome des Phantomschmerzes anhand von Gehirnscans besser untersucht wurden. Als man eben aufgeklärt hat, wie es sein kann, dass ein Mensch dessen Arm amputiert ist, dennoch Schmerz in
der nicht mehr vorhandenen Hand haben kann. Da hat man dann verstanden, dass der Schmerz im Gehirn entsteht. Dass eben die Neuronen noch vorhanden sind und dort auch Schmerzsignale senden. Es kann also sein, dass bei einem Gewebeschaden durch einen Bandscheibenvorfall oder Schnitt, auch nach der Verheilung noch Schmerzen vorhanden sind, obwohl das Gewebe bereits ausgeheilt ist. Das Thema an sich ist sehr komplex und man kann nicht einfach sagen, dass nur diejenigen, die schlecht darüber gedacht haben, auch im Nachgang noch damit zu kämpfen haben. Die Schmerzforschung besagt auch, dass je mehr Untersuchungen (MRT etc.) stattgefunden haben, desto mehr wird die Angst und auch der Schmerz befeuert. Die Diagnosen werden immer umfangreicher und damit geht es einem oft auch schlechter. Viele Menschen sind immer ganz scharf auf eine Diagnose, das liegt vermutlich daran, dass der Mensch gern verstehen möchte, was mit seinem Körper passiert. Und somit geht es bei der Diagnose/ Behandlung ja auch ganz oft darum aufzuklären und so den Schmerz auch zu lindern. Allein das Verstehen beruhigt das gesamte Nervensystem. Die Beruhigung erfolgt über die psychischen Komponenten einfach dadurch, dass man Verständnis erfährt und mehr Aufklärung erhält. Was genau da passiert ist sehr komplex, da dort verschiedene Neuronen miteinander arbeiten, die sich gegenseitig hemmen oder befeuern. Es bildet sich in
diesem Fall ein Neuronen Netzwerk, welches immer individuell betrachtet werden muss. Jeder Schmerz läuft quasi seine eigene Bahn und genau das muss auch erstmal beleuchtet werden.
Wenn ich zum Beispiel umknicke und mir dann immer wieder sage, dass das ja so sein muss, weil ich ja eh Probleme mit dem Fußgelenk habe, inwiefern beeinflussen mich diese negativen Gedanken?
Zum einen blickt man in dem Moment ganz anders auf den Schmerz, denn er ist ab dem Zeitpunkt immer negativ behaftet. Man hat den Fokus die ganze Zeit auf dieser Thematik und somit kann es auch viel schneller so sein, dass man wieder umknickt. Quasi eine selbsterfüllende Prophezeiung. Und zum anderen beeinflusst es ebenfalls die muskuläre Koordination. Dem zugrunde liegt die Wissenschaft des mentalen Trainings, an denen sich sämtliche Profisportler auch bedienen. Hierzu gibt es auch eine Studie, in der es drei Testgruppen gab: Eine Gruppe, die nur mentales Training macht, eine die nur physiologisch trainiert und eine die beides trainiert. Am besten abgeschnitten hat die Gruppe, die ausschließlich mental trainiert hat.
Wenn ich also denke „Ich habe schlechtes Bindegewebe“, dann ist diese Information in allen Muskeln und Zellen, in den Bändern und diese Info macht etwas mit den Zellen. Deswegen ist dieses „es ist nur im Kopf“ auch etwas lapidar, denn ja es mag vielleicht nur im Kopf sein, aber dieser steuert doch alles und beeinflusst nachweislich die Zellen sowie die Ansteuerung dieser.
Also kurz und knapp: Das, was ich über mich, meinen Körper und mein Gewebe denken, beeinflusst dieses auch maßgeblich.
Bei der sozialen Komponente von Schmerz ist es doch aber auch wichtig, was andere darüber denken oder?
Absolut. Deswegen bin ich dahingehend auch immer sehr aktivistisch unterwegs. Denn ich habe gerade in der Praxis viel erfahren, dass ich meinen Patient*innen nicht helfen konnte, weil sie sich jeden Tag überarbeiten, was soll ich denn da in 20
Minuten ändern? Und da habe ich dann festgestellt, dass man eigentlich für soziale Gerechtigkeit kämpft. Ein großes Thema spielt hier auch die Scham. Viele trauen sich nicht darüber zu reden und wenn sie sich nicht trauen, darüber zu reden, dann
kann einem auch niemand erzählen, dass es dafür Behandlungen gibt und somit kann auch keine Besserung eintreten. Für mich ist die Scham bei allem das größte Übel.
Was macht es denn mit meinen Schmerzen, wenn medizinisch Fachpersonal quasi „über mir steht“, mich anschaut und sagt „Oh Gott..“
Das hatte ich ja beim Vorgespräch einmal schon angeschnitten, dass es oft kontraproduktiv ist, wenn man Kontraindikationen anspricht. Kontraindikationen ist eine Liste, mit Dingen, die man bei gewissen Beschwerden nicht mehr tun sollte. Es gibt also immer eine Liste, mit jenen Dingen, die man dann im Alltag nicht mehr tun darf. Rein physiologisch steigt durch dieses „ach ich darf das und jenes nicht mehr“ die Angst und somit auch der Schmerz. Angst ist das Gegenteil von Aspirin, Angst
befeuert den Schmerz. Ganz schlimm ist es ja häufig bei der Rektusdiastase, dass man der Frau nach der
Geburt sagt, dass man zum Beispiel nicht auf alle Viere gehen darf, weil dann die Organe heraus fallen. Das einer Mutter mit Kleinkind zu sagen, ist meiner Meinung nach Körperverletzung, denn die Mutter verbringt gefühlt einen Großteil ihrer Zeit auf allen Vieren und da dann unberechtigte Panik zu verbreiten, vor allem, wenn die Informationen faktisch falsch sind, kann dazu führen, dass man mehr Ängste sät und somit auch den Schmerz (der vorher vielleicht auch gar nicht da war) durch Panik
befeuert. Das wichtigste ist in meiner Arbeit immer die Angst rauszunehmen. Den Schmerz zu erklären und liebevoll zu sich selbst zu sein.
Angst macht den Körper eng. Das kann man zum Beispiel auch bei einem Horrorfilm beobachten, den schaut man ja auch – üblicherweise – nicht in entspanntem, sondern eher angespanntem Zustand. Also ist Angst nehmen auch ein sehr wichtiger
Bestandteil der Behandlung.
Jasmin selber behandelt ihre Patient*innen mit der Hypnosetherapie. Wie genau das abläuft und was du dir darunter vorstellen kannst, erfährst du hier im Podcast.
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